Illegale Migration Polen soll Visa an Migranten verkauft haben - Viele Eingereiste kamen nach Deutschland

Von Philipp Fritz
Korrespondent in Warschau

Stand: 15.09.2023, 16:40 Uhr | Lesedauer: 7 Minuten

Laut Medienberichten haben polnische Konsulate in Afrika und Asien hunderttausende Arbeitsvisa an Migranten verkauft. Diese gelangten damit in die EU und auch nach Deutschland. Im Zentrum des Verdachtes stehen Politiker der PiS-Partei, die damit wirbt, kaum Migration zuzulassen.

Ist der Grenzzaun zu Belarus nur Augenwischerei? Kommen die meisten Migranten mit gekauften Visa nach Polen?
Quelle: AP

Lange war die deutsch-polnische Grenze kein Thema für Migranten, die illegal in die EU einreisen. Im Fokus der Öffentlichkeit standen die Balkan- oder die Mittelmeerroute, wie aktuell die Lage auf Lampedusa zeigt. Auf der italienischen Insel kamen in den vergangenen Tagen mehrere Tausend Menschen mit Booten aus Afrika an.

Polen ist Mitglied der EU, stationäre Grenzkontrollen im Schengenraum, auch entlang der Oder-Neiße-Grenze, gab es in der Regel kaum. Doch seit etwa zwei Jahren ist vieles anders. Über die sogenannte Belarus-Route gelangen Menschen aus dem Nahen Osten oder Afrika nach Polen und damit in die EU. Das Regime von Diktator Alexander Lukaschenko lässt sie nach Belarus einfliegen und drängt sie teils gewaltsam über die Grenze nach Polen. Die Migranten reisen dann mehrheitlich weiter nach Westen, nach Deutschland oder in die Niederlande.

Die deutsche Bundespolizei, die stichprobenartig im Raum vor der polnischen Grenze Kontrollen durchführt, aber auch die Behörden in weiteren an Polen grenzenden deutschen Bundesländern, wundern sich seit Wochen, dass die Zahl der über den Osten kommenden Migranten steigt. Denn Polen hatte bereits im Jahr 2022 die Grenze zu Belarus mit einer mehr als vier Meter hohen Mauer massiv gesichert. Polnische Grenzer wie auch die Armee stehen im Ruf, besondere Härte walten zu lassen und Migranten zurück über die Grenze nach Belarus zu schaffen.

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Trotzdem kommen immer mehr Syrer oder Afghanen über Polen nach Deutschland. Die Bundespolizei griff allein in der ersten Jahreshälfte 12.000 illegal eingereiste Migranten auf. In Deutschland stellen sie dann meist einen Asylantrag. Aus der CDU werden bereits Kontrollen an der deutsch-polnischen Grenze gefordert.

Polnische Sicherheitsbehörden erklärten den Anstieg der Migrantenzahlen bisher damit, dass Minsk, aber auch Moskau die Aktivitäten verstärkt haben, Menschen nach Polen zu drängen. Doch wie es aussieht, ist das nicht die ganze Wahrheit. Ein Skandal um die illegale Vergabe von Visa durch polnische Konsulate außerhalb der EU erschüttert Polen. Vieles deutet darauf hin, dass sich die polnische Regierung selbst als "Schleuser" von Migranten nach Europa betätigt hat.

Polnische Medien berichten von einem korrupten "Netz" oder einer "Mafia" in polnischen Konsulaten zum Beispiel in afrikanischen Ländern, die zusammen mit privaten Unternehmern - konkret ist die Rede von einer in Dubai ansässigen Firma - tausendfach, gar hunderttausendfach illegal Visa für Polen ausgestellt haben sollen. 5000 Euro sollen diese Einreisen in die EU für Menschen aus Afrika oder aus Südostasien gekostet haben.

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Wer ein wenig sucht, findet schnell Anleitungen auf Instagram oder TikTok auf Arabisch oder Englisch, die zeigen, auf welchen einfachen Wegen die polnischen Papiere zu besorgen sind, um damit per Flugzeug gefahrlos in die EU einzureisen.

Es sind Indizien, die darauf hindeuten, dass sich über Monate ein illegaler Handel etabliert hat, von dem korrupte polnische Beamte und sogar Politiker profitiert haben sollen. Zwar gelten die erteilten Arbeitsvisa nur für Polen. Doch weil das Land im Schengenraum ist, können die Migranten damit ohne Probleme weiter nach Deutschland reisen, dort ihre Papiere verschwinden lassen und Asyl beantragen.

Es war schon länger aufgefallen, dass kein Land in Europa so viele Aufenthaltsgenehmigungen an Nicht-Europäer vergibt wie Polen. Ein Drittel der in der EU erteilten Dokumente dieser Art für Menschen außerhalb Europas, vorwiegend aus arabischen Ländern oder Afrika, entfällt auf das Land. Dabei brüstet sich die polnische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) damit, so gut wie keine Menschen aus überwiegend muslimischen Ländern nach Polen zu lassen. Aber bereits fünf Jahre in Folge liegt ausgerechnet Polen auf Platz eins bei der Vergabe von Dokumenten, es geht um 970.000 Genehmigungen allein im Jahr 2021.

Polen ist mitten im Wahlkampf

Die Zahlen für das Jahr 2022 hat Warschau gar nicht erst an die zuständigen europäischen Stellen übermittelt, nicht ohne Grund, wie Kritiker der Regierung nun vermuten.

Der Fall ist in seinen Dimensionen noch nicht abzuschätzen. Doch polnische Medien oder Politiker wie Marcin Kierwinski von der größten Oppositionspartei Bürgerplattform (PO) gehen davon aus, dass allein in den zurückliegenden drei Jahren 350.000 Visa entgegen geltenden Bestimmungen von Polen ausgestellt worden seien. Polen steckt im Wahlkampf, am 15. Oktober stimmt die Bevölkerung über ein neues Parlament ab.

Ohnehin wirft die Opposition der PiS schon länger "Heuchelei" in Sachen Migration vor. PO-Chef Donald Tusk, ehemaliger EU-Ratspräsident und bis 2014 selbst polnischer Premierminister, schrieb auf "X", vormals Twitter, dass der belarussische Diktator Lukaschenko im Vergleich zur PiS ein "Amateur" sei. Denn Polens Regierungspartei verbreite "antimigrantische Hysterie", bringe dabei eine "Rekordzahl von Migranten" nach Europa und würde auch noch "Millionen mit der Visavergabe" verdienen, so Tusk.

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Tatsächlich greifen die Nationalkonservativen immer wieder die EU und Deutschland für ihren Umgang mit dem Thema Migration an. Gerade Deutschland sei angeblich naiv, gegenüber Europa unsolidarisch und würde "Pullfaktoren" wie hohe Sozialleistungen für Migranten kleinreden. In Wahlkampfvideos zeigen sie Bilder von Menschen, die europäische Grenzen stürmen oder von Unruhen in Frankreich.

PiS-Politiker warnen dabei immer wieder konkret auch vor "Zuständen wie in Deutschland". Als kürzlich ein Pole in München von einem Afghanen vergewaltigt wurde, äußere sich Premierminister Mateusz Morawiecki dazu, der in einem Wahlkampfvideo zudem die europäische Migrationspolitik geißelte und ein Referendum darüber in Aussicht stellte.

Nun steht die Frage im Raum, ob straffällige Migranten, die sich zudem schwerlich abschieben lassen, dank der Praktiken einiger Mitglieder der polnischen Regierung überhaupt erst in die EU einreisen konnten. Insofern belastet die Visa-Affäre bereits jetzt die Beziehungen Polens zu den europäischen Partnern, aber auch zum wichtigen Verbündeten USA. Migranten sollen mit polnischer Hilfe auch versucht haben, in die USA zu gelangen.

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Laut Berichten des Nachrichtenportals "Onet" (gehört wie WELT zu Axel Springer SE) haben polnische Konsularbeamte auf Geheiß von Vizeaußenminister Piotr Wawrzyk Dokumente an Personen in Indien ausgestellt. In einigen E-Mails sollen sich bis zu hundert Namen und Telefonnummern finden. Die Konsularmitarbeiter, so der Bericht, hätten sich direkt bei den Personen melden und dafür sorgen sollen, dass sie nach Polen kommen.

Schließlich gelangen sie getarnt als indisches Bollywood-Filmteam nach Mexiko, von wo aus sie versucht haben sollen, in die USA einzureisen. Pro Person sollen dafür bis zu 25.000 Dollar gezahlt worden sein. Laut Bericht ist der Vorfall den US-Sicherheitsbehörden bekannt. Das ist nur einer von vielen kuriosen Fällen, die aktuell von polnischen Medien aufgedeckt werden.

PiS ist die stärkste Kraft. Wie lange noch?

Sprengstoff aber enthält die Visa-Affäre auch mit Blick auf den Wahlkampf. Die polnischen Wähler goutieren mehrheitlich eine harte Migrationspolitik, ein Feld, auf dem die Regierungspartei jetzt angreifbar scheint. Noch ist die PiS in Umfragen mit 38 Prozent die stärkste Kraft. Jetzt, nur einen Monat vor dem Wahltag, könnte die Partei zurückfallen.

Die reagiert, indem sie abwiegelt und die Flucht nach vorn antritt. Einzelne Abgeordnete behaupten, die Medien und die Opposition bauschten die Vorgänge zu einem Skandal auf, die tatsächlichen Zahlen der erteilten Visa sei viel niedriger. Gleichzeitig werden Mitarbeiter im Außenministerium entlassen.

Auch Vizeaußenminister Piotr Wawrzyk musste sein Amt niederlegen. In seinen Zuständigkeitsbereich fiel die Konsularpolitik. Der laut Berichten von ihm verantwortete "Bollywood-Fall" mit dem angeblichen Filmteam, das in die USA einreisen wollte, bekommt derzeit viel Aufmerksamkeit. Wawrzyk verliert daher auch seinen PiS-Listenplatz für die anstehende Wahl.

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Denkbar ist, dass weitere hochrangige Politiker oder Diplomaten ihre Posten verlieren werden, wenn die Visa-Affäre weitere, internationale Kreise zieht. Im Blickfeld steht auch Außenminister Zbigniew Rau, der nach Bekanntwerden der Visa-Affäre zeitweise abgetaucht schien.

Inzwischen ermittelt auch das Zentrale Antikorruptionsbüro (CBA), die staatliche Antikorruptionsbehörde. Sie verfügt über geheimdienstliche Kompetenzen und hat im Außenministerium bereits Computer beschlagnahmt. Wie die polnische "Gazeta Wyborcza" berichtet, habe das CBA aber erst mit den Untersuchungen begonnen, als andere EU-Länder Druck ausübten. Die Zeitung schreibt nicht, um welche Länder es sich handelt. Aber den nationalen Sicherheitsbehörden andere Länder sei demnach nicht entgangen, dass besonders viele Menschen mit polnischen Papieren in der EU unterwegs seien.

Parteiwerbung mit dem Elend auf Lampedusa

Die PiS versucht trotz allem, in die Offensive zu gehen. Erst am Freitagvormittag veröffentlichte die Partei ein Wahlkampfvideo, in dem die Zustände auf Lampedusa zu drastischer Musik als "Invasion" bezeichnet werden, die selbst das Militär nicht abwehren könne. Der Opposition hält sie vor, im EU-Parlament für eine "erzwungene Umverteilung" von Migranten in der EU gestimmt zu haben. Doch die Antimigrationskampagne, so sieht es derzeit aus, könnte im Wahlkampf von der Visa-Affäre ins Unglaubwürdige gezogen werden.


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